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Politik

Der Kanzler und das Stadtbild – Eine deutsche Farblehre in 50 Grautönen (und einem nervösen Beige)

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Der Kanzler und das Stadtbild – Eine deutsche Farblehre in 50 Grautönen (und einem nervösen Beige)

Vom Oppositions-Rotzlöffel zum Kanzler mit Fönfrisur

Friedrich Merz, der Mann, der früher jeden Stammtisch mit der rhetorischen Wucht eines Presslufthammers bediente, ist inzwischen Bundeskanzler. Er trägt jetzt Maßanzüge statt Maßkrüge und spricht bedächtiger – so, als würde er bei jedem Satz innerlich die Tonlage von Helmut Schmidt anvisieren.

Doch alte Reflexe sterben langsam. Während er also versucht, staatsmännisch zu wirken, bricht ab und zu der Oppositions-Friedrich durch: dieser leicht genervte CDU-Onkel, der in Talkshows den Zeigefinger hebt und sagt:

„Ich sag’s ja nur, wie’s ist!“

Und genau dieser Reflex brachte ihm nun den größten rhetorischen Fehltritt seiner Kanzlerschaft ein:

„Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem.“

Boom. Ein Satz, so unscheinbar wie ein Parkverbotsschild – und doch politisch explosiver als ein Feuerwerkskörper im Bundestag.

Das Stadtbild – wenn Politik plötzlich Farbpsychologie betreibt

Das Wort „Stadtbild“ klingt harmlos, fast gemütlich. Ein Begriff für Tourismusbroschüren, Stadtführungen oder langweilige VHS-Kurse: „Das Stadtbild meiner Heimat – eine Reise zwischen Kopfsteinpflaster und Klinker.“

Doch in der politischen Rhetorik ist das „Stadtbild“ längst zur Tarnkappe geworden – ein Codewort, das mit harmloser Stimme sagt, was man nicht mehr offen sagen darf. Es ist der Wolf im Beige-Ton, die freundliche Metapher für ein unangenehmes Bauchgefühl: „Hier sieht’s irgendwie... anders aus.“

Das „Stadtbildproblem“ ist die neue deutsche Volkskrankheit – gleich nach Rückenschmerzen und Bürokratie. Es befällt Menschen, die früher mit Sätzen wie „Ich hab ja nichts gegen Ausländer, aber...“ begannen, und heute einfach sagen:

„Das Stadtbild ist nicht mehr dasselbe.“

Die politische Nachbrenner-Show

Im Bundestag reagierte die Opposition prompt. Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge rief empört:

„Es wäre Zeit für ein bisschen mehr Anstand, Herr Merz!“

Ein Satz, der in den Reihen der Union vermutlich als Kriegserklärung gilt.

Daraufhin sprang Jens Spahn auf – der Mann, der „Empörung“ als Freizeitbeschäftigung betreibt – und entgegnete:

„Ich weiß nicht, Frau Kollegin Dröge, wo Sie unterwegs sind, aber an den Hauptbahnhöfen sieht man natürlich die Folgen irregulärer Migration!“

Da war sie wieder, die Spahn’sche Logik: Wenn man genug oft „natürlich“ sagt, klingt selbst Panik vernünftig.

Spahn meint mit „Folgen“ vermutlich Menschen, die... an Bahnhöfen sind. Schockierend! Wo kämen wir denn hin, wenn Menschen in Deutschland einfach reisen dürften!

Markus Söder – der bajuwarische Stadtbild-Pionier

Natürlich wollte Markus Söder da nicht fehlen. Er hatte den Begriff „Stadtbild“ bereits im Sommer getestet, als PR-Generalprobe für den nächsten „Söder rettet Bayern“-Wahlkampf.

Gefragt, ob auch unbescholtene Syrer und Afghanen abgeschoben werden sollten, antwortete der bayerische Landesvater ungerührt:

„Das muss zwingend passieren. Das Stadtbild muss sich wieder verändern.“

Eine Aussage, die klingt, als wolle er ein architektonisches Problem lösen – vielleicht mit einem Denkmal, das „Heimat“ buchstabiert, aber nur auf Oberfränkisch lesbar ist.

Söder redet von Rückführungen, als ginge es um Designberatung für Fußgängerzonen: „Mehr Kastanienbäume, weniger Menschen aus Syrien – das Auge isst schließlich mit.“

Die Soziologin erklärt, was Merz nicht sagen wollte (aber gesagt hat)

Die Hamburger Soziologin Nina Perkowski bringt das Dilemma auf den Punkt: Der Begriff „Stadtbild“ greife ein „unklares Gefühl der Fremdheit“ auf. Übersetzt heißt das: Er sagt, was manche denken, aber keiner sich traut, auf dem Balkon zu brüllen.

Denn „Stadtbild“ meint nicht Graffiti, Müll oder Beton. Es meint: Menschen, die sichtbar nicht in das alte Kopfkino passen, in dem Deutschland ein Rosamunde-Pilcher-Set mit Bockwurstkultur war.

Perkowski sagt:

„Damit wird ein kollektives Gefühl des Unwohlseins konstruiert.“

Mit anderen Worten: Merz verkauft Bauchgrummeln als politische Kategorie. Man nennt das heute Gefühlsmanagement mit Abschiebegarantie.

Wenn Zahlen gegen Gefühle verlieren

Merz verwies stolz darauf, dass die Zahl der Asylanträge um 60 Prozent gesunken sei. Aber wen interessieren Zahlen, wenn man stattdessen eine Meinung haben kann?

Denn laut einer DIW-Studie sinkt die Kriminalität, aber die Angst davor steigt. Ein Phänomen, das Soziologen „gefühlte Unsicherheit“ nennen – und Politstrategen „Wahlkampfgold“.

Wenn Fakten nicht ziehen, zieht eben das Stadtbild. Die neue politische Gleichung lautet:

Weniger Statistik, mehr Stimmung.

So schafft man Narrative, die einfacher sind als die Realität: Nicht komplexe Ursachen bekämpfen, sondern komplexe Menschen.

Die Evolution der Angst – von der Dönerbude zur Demokratie

Die Angst hat in Deutschland eine erstaunliche Wandlung durchlaufen. Früher fürchtete man Atomkrieg, heute den Kebabstand an der Ecke. Man hatte Angst vor Inflation, jetzt vor zu vielen Sprachen im Supermarkt. Und während früher „Integration“ als Fortschritt galt, wird sie heute als „optische Herausforderung“ betrachtet.

Deutschland, das Land der Dichter und Denker, hat sich in ein Land der Sichter und Fühler verwandelt: Man sieht zu viel, man fühlt zu viel, und man denkt zu wenig.

Von Merkel zu Merz – Die Rückentwicklung der Gelassenheit

Angela Merkel hatte einst in einer Fernsehrunde auf eine ähnliche Bemerkung reagiert. AfD-Chef Jörg Meuthen hatte 2017 behauptet:

„Ich sehe in manchen Städten kaum noch Deutsche.“

Merkel entgegnete trocken:

„Ich weiß nicht, was Sie sehen, Herr Meuthen. Ich sehe Menschen.“

Fünf Jahre später steht ihr Parteikollege im Kanzleramt – und scheint lieber Meuthen zu zitieren als Merkel zu verstehen. Ein beachtlicher rhetorischer Rückschritt, fast schon sportlich.

Man könnte sagen: Merkel regierte mit Physik – Merz mit Phobik.

Die Opposition als Selbsthilfegruppe

Der politische Diskurs gleicht mittlerweile einer Selbsthilfegruppe für Unwohlsein mit Fremdwörtern. Man trifft sich, sagt „Stadtbild“ statt „Ausländer“, „Sorge“ statt „Vorurteil“, und nickt sich gegenseitig verständnisvoll zu.

Und die Medien? Sie berichten brav über „Aufregung in der Bevölkerung“, statt über den Trick, wie man Aufregung überhaupt erst herstellt.

Der Begriff „Stadtbild“ ist dabei das perfekte rhetorische Accessoire: Er klingt nach Bürgerdialog, riecht nach Latte Macchiato – und kaschiert hervorragend die Tatsache, dass es eigentlich um Angst geht.

Der Blick, der alles sagt

Am Ende bleibt die Frage: Was ist eigentlich dieses „Problem im Stadtbild“, von dem der Kanzler spricht? Sind es wirklich die Menschen? Oder ist es das Spiegelbild einer Gesellschaft, die in der Vielfalt ihr Unbehagen sieht?

Vielleicht ist das wahre Problem gar nicht sichtbar – vielleicht steht es vor dem Mikrofon, trägt Anzug und nennt Empathie „linksgrün“.

Ein Vorschlag zur Güte

Vielleicht sollte man das Wort „Stadtbild“ reformieren. Zum Beispiel durch ein Ampelsystem:

  • Grün: Vielfalt sichtbar – Demokratie funktioniert.
  • Gelb: Einige jammern über „Früher war alles besser“.
  • Rot: Politiker reden über „Rückführungen im großen Umfang“.

Oder, noch einfacher: Man ersetzt „Stadtbild“ durch „Menschenbild“.

Denn das, lieber Kanzler, ist das Einzige, was hier wirklich reparaturbedürftig ist.

Deutschland diskutiert über Hautfarben im Straßenbild, während anderswo die Demokratie bröckelt. Vielleicht sollte jemand Merz daran erinnern: Ein Kanzler formt kein Stadtbild. Er prägt ein Land.

Und das sollte – wenn’s geht – ein bisschen bunter aussehen als seine Wortwahl.