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„Ein Jahr für Deutschland“ – Die Rückkehr der Zwangsharmonie

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„Ein Jahr für Deutschland“ – Die Rückkehr der Zwangsharmonie

Oder: Wenn Politiker merken, dass man Zusammenhalt nicht downloaden kann

Berlin. Deutschland diskutiert mal wieder. Und wie immer, wenn Friedrich Merz das Mikrofon findet, geht es nicht um TikTok, sondern um Tugend. Der Kanzler, der so gern Ordnung in die Unordnung bringen möchte, fordert ein „gesellschaftliches Pflichtjahr“ – ein Jahr für das Land, für die Gemeinschaft, für das gute Gewissen. Und natürlich für Schlagzeilen, die nach Tatkraft klingen.

Ein Jahr Bundeswehr, Pflegeheim, Feuerwehr oder Sozialstation – klingt nach Patriotismus mit humanistischem Einschlag, oder wie ein Konzept von jemandem, der denkt, Freiwilligendienste funktionieren wie der TÜV: Alle zwei Jahre Pflicht, sonst gibt’s keine Plakette.

Deutschland, einig Pflichtland

Merz erklärte in der ARD-Sendung Caren Miosga, man müsse den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Eine noble Idee, die in etwa so oft bemüht wird wie das Wort „Reform“ in Koalitionsverträgen. Doch der Vorschlag hat Charme – zumindest für alle, die glauben, dass man Werte vermitteln kann, indem man sie verordnet.

„Ich bin dafür, dass wir ein allgemeines gesellschaftliches Pflichtjahr etablieren“, sagte Merz und klang dabei, als wolle er persönlich mit der Kelle am Kasernentor stehen. Ein Satz wie aus einem deutschen Lehrbuch für innere Sicherheit: klar, präzise, und garantiert nicht spontan.

Das Pflichtjahr – die moderne Version des Klassenausflugs. Nur ohne Spaß, mit Uniformpflicht und Grundgesetzänderung.

Von der Idee zur Realität: Bürokratie marschiert

Natürlich braucht man dafür eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag. Und schon jetzt sieht man die Paragrafen winken wie Flaggen beim Zapfenstreich. Verteidigungsminister Boris Pistorius findet die Idee „sympathisch“ – was in der SPD-Sprache ungefähr bedeutet: „Wir reden drüber, wenn der nächste Weltfrieden ausgerufen ist.“

Auch Generalinspekteur Carsten Breuer ist Feuer und Flamme. „Ja, sofort!“, sagt er, fügt aber hinzu: „Das würde auf jeden Fall länger dauern, und diese Zeit haben wir nicht.“ Eine bemerkenswerte Formulierung – sie sagt gleichzeitig „Ich will das“ und „Ich mach’s trotzdem nicht“. So klingt Realpolitik im 21. Jahrhundert: ein kollektives „Ja, aber bitte nicht in meiner Amtszeit“.

Der Zusammenhalt als staatliche Anordnung

CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sieht im Pflichtjahr die Rettung der Republik. „Unser Zusammenhalt bröckelt“, warnt er. Eine Erkenntnis, die so neu ist wie das Oktoberfest in Bayern.

Aber Linnemann weiß auch gleich, wie man’s flickt: ein bisschen Pflicht, ein bisschen Disziplin, ein bisschen „Deutschland, wir müssen reden“. Mit einem Gesellschaftsjahr könne man „dem Schwinden der Bindekräfte“ begegnen, sagt er. Das klingt nach Politphysik: Wenn die Gesellschaft auseinanderdriftet, hilft Magnetismus in Tarnfarben.

Die Linke sagt Nein, und das ist ihr gutes Recht

Für die Zweidrittelmehrheit bräuchte die Union Stimmen von SPD, Grünen und – man halte sich fest – der Linken. Doch deren Chef Jan van Aken stellt klar: „Ich bin gegen Pflichtdienste.“ Er sagt das mit der Entschiedenheit eines Mannes, der weiß, dass man gegen Zwangsdienste nur sein kann, wenn man sich freiwillig aufregt.

Und so bleibt Merz’ Traum vom „Ein Jahr für Deutschland“ vorerst das, was viele politische Ideen sind: eine PowerPoint-Präsentation mit Pathos.

Pflicht oder Pseudo-Freiwilligkeit – das ist hier die Frage

Die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt (DSEE) ist der Meinung, Pflicht sei der Tod der Motivation. „Pflicht erzeugt Desinteresse“, sagt Vorstand Jan Holze – und man spürt, wie sehr dieser Satz auf jedes zweite Schulfach zutrifft.

Er plädiert für Freiwilligkeit. Doch die hat im aktuellen Zeitgeist ungefähr denselben Stellenwert wie Dialup-Internet: langsam, unsicher und kaum jemand will’s wirklich nutzen. „Mit Zwang erreicht man wenigstens alle“, denkt sich Merz vermutlich. Eine Haltung, die schon früher für Begeisterung gesorgt hat – allerdings eher bei Oberlehrern als bei Jugendlichen.

Boris Pistorius: Der Pragmatiker in der Zwangsjacke

Pistorius, der neue Volkserklärer der SPD, würde am liebsten die Debatte einfach verschieben. „Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit“, sagt er. Ein Satz, der in seiner Schlichtheit fast revolutionär klingt, weil er andeutet, dass Politik gelegentlich ohne Realität auskommt.

Er will sich lieber um das „Machbare“ kümmern – was so klingt, als plane er, die Armee erstmal in den Baumarkt zu schicken, bevor sie sich an die Gesellschaft wagt.

Ein Jahr voller Widersprüche

Das Pflichtjahr soll den Zusammenhalt fördern, sagt Merz. Doch gleichzeitig spaltet es schon vor seiner Einführung die Gesellschaft – in Begeisterte, Bürokraten, Berufsempörte und Beamte auf Lebenszeit.

Die Familienministerin Karin Prien warnt schon mal vorsorglich: Man müsse sich auf eine Welle von Wehrdienstverweigerern einstellen. Eine prophetische Erkenntnis – in Deutschland ist die einzige Bewegung, die wirklich zuverlässig funktioniert, der Widerstand gegen Verpflichtungen.

Ein Land zwischen Pflichtgefühl und Pflichtvergessen

Das Ganze erinnert an eine typisch deutsche Tragikomödie: Man will den jungen Menschen Werte beibringen, weil man sich nicht sicher ist, ob man selbst noch welche hat. Man redet von Gemeinschaft, während man in Umfragen auf die Frage „Kennen Sie Ihren Nachbarn?“ antwortet: „Nur von der Klingel her.“

Und so soll das Pflichtjahr die Lücke schließen, die Netflix, Egoismus und eine 40-Stunden-Woche gerissen haben. Ein Jahr, um Deutschland wieder „resilient“ zu machen. Ein Jahr, in dem 18-Jährige lernen sollen, dass Pflicht sexy ist – und Verantwortung was mit Frühschicht zu tun hat.

Pflichtjahre für alle – aber bitte mit WLAN

Ob Merz’ Idee Wirklichkeit wird, ist fraglich. Aber sie zeigt, wie tief das Vertrauen in die Gesellschaft inzwischen gesunken ist. Man glaubt offenbar, der Zusammenhalt ließe sich bürokratisch verordnen, wie eine Steuer-ID oder ein Parkausweis.

Doch Gemeinschaft entsteht nicht durch Zwang, sondern durch Sinn. Und solange der Staat auf seine Bürger blickt wie auf eine Gruppe Jugendlicher, die ihre Hausaufgaben vergessen haben, wird aus dem Pflichtjahr eher eine Pflichtübung im politischen Symbolismus.

Deutschland – Land der Dichter, Denker und Dienstverweigerer. Und wenn Merz recht hat, könnte das nächste große Regierungsprogramm heißen: „Pflichtbewusstsein 2.0 – Jetzt auch mit Grundgesetz-Update.“