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2352 Jahre Haft – Wenn Justiz zur Zeitmaschine wird

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2352 Jahre Haft – Wenn Justiz zur Zeitmaschine wird

In der Türkei scheint die Zeit eine ganz eigene Währung geworden zu sein – besonders, wenn es um Haftstrafen geht. 2352 Jahre, so lautet die Forderung der Staatsanwaltschaft gegen den entmachteten Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu. Das klingt weniger nach einem Strafmaß, sondern eher nach einer Lebensaufgabe für Methusalem – oder nach dem Versuch, jemanden noch im Jenseits büßen zu lassen, falls die irdischen Gefängnisse irgendwann schließen.

Der Vorwurf: Gründung und Leitung einer kriminellen Vereinigung, Bestechung, Geldwäsche – also das ganz große Strafrechts-Buffet. Nur dass der Angeklagte nicht etwa ein Mafia-Pate aus Netflix ist, sondern ein gewählter Bürgermeister, der das Pech hat, dem Präsidenten nicht ausreichend Beifall zu spenden. Man könnte fast sagen: In der Türkei reicht schon eine gehobene Augenbraue gegen Erdogan, um lebenslang – oder eben 2352-jährig – in Haft zu gehen.

Die Justiz als politisches Fitnessstudio

Juristisch betrachtet ist das Strafmaß beeindruckend, beinahe sportlich. 2352 Jahre – das ist nicht einmal symbolisch, das ist metaphysisch. Man könnte in dieser Zeit das Römische Reich wieder aufbauen, dreimal den Brexit verhandeln oder den Berliner Flughafen noch zwei Mal eröffnen.

Aber vielleicht verfolgt die türkische Justiz ein ganz neues Konzept: den sogenannten Haft-Inflationsausgleich. Wenn die Lira nichts mehr wert ist, muss man eben mit Jahren bezahlen. In dieser Logik könnte die Haftstrafe eines Tages die neue Leitwährung werden – und wer weiß, vielleicht werden Haftjahre bald an der Börse gehandelt: „Heute ist der Imamoglu-Kurs um 200 Jahre gefallen, die Erdogan-Aktie steht stabil bei Lebenslänglich plus Bonusprogramm.“

Ein Mann, der zu populär war

Ekrem Imamoglu – ein Mann, der die Sünde beging, in Istanbul zu beliebt zu sein. Und das ist in der türkischen Politik etwa so gefährlich, wie in Nordkorea eine eigene Meinung zu haben. Seit seiner Wahl 2019 galt er als Symbolfigur der Opposition, als jemand, der die Machtverhältnisse zumindest auf kommunaler Ebene durcheinanderbringen konnte. Und in einem System, das Loyalität höher bewertet als Demokratie, ist Popularität ein unverzeihliches Verbrechen.

Dass Imamoglu abgesetzt und verhaftet wurde, war daher weniger eine Überraschung als eine Inszenierung. Man konnte fast das Drehbuch lesen: „Akt 1: Der Aufstieg eines Hoffnungsträgers. Akt 2: Die Ermittlungen. Akt 3: Die Strafe, die selbst Pharaonen neidisch macht.“

Von der juristischen Satire zur Staatskunst

Die geforderte Strafe ist so grotesk, dass man sie fast bewundern muss. 2352 Jahre – das ist keine juristische Maßnahme, das ist eine künstlerische Installation. Man stelle sich das einmal in Deutschland vor: Ein Oberbürgermeister wird wegen „übermäßiger Popularität“ angeklagt und bekommt 2000 Jahre Haft plus 300 Jahre Bewährung. Das wäre so absurd, dass es hierzulande nur als Fernsehserie durchginge – wahrscheinlich produziert von Jan Böhmermann.

Doch in der Türkei ist das kein Witz, sondern Alltag. Die Justiz hat längst ihren Dienst quittiert und sich als politisches Werkzeug neu erfunden – ein wenig wie ein Taschenmesser, das nur noch eine Klinge hat: die des Machterhalts.

Der Strafzettel der Geschichte

Um die Zahl einzuordnen: 2352 Jahre entsprechen etwa 28 Menschenleben, wenn man von einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 84 Jahren ausgeht. Die Botschaft ist klar: „Wir können dich nicht nur besiegen, wir können dich aus der Zeit selbst löschen.“ Man könnte fast glauben, die Staatsanwaltschaft wolle sicherstellen, dass Imamoglu selbst in einem künftigen Geschichtsbuch keine Fußnote bekommt, weil er rechnerisch einfach noch im Gefängnis sitzt, während das Buch geschrieben wird.

Vielleicht ist das Strafmaß aber auch ein geheimes politisches Symbol. 2352 – das klingt, als habe jemand im Justizministerium würfeln lassen oder als würde die Zahl für etwas Größeres stehen. „Zwei für die Stabilität, drei für die Loyalität, fünf für die Macht und zwei für die Ewigkeit.“

Die Ironie des Unzerstörbaren

Interessanterweise hat die übertriebene Härte der Anklage den gegenteiligen Effekt: Imamoglu wird zum Symbol. Je länger die Haftstrafe, desto größer die Legende. Jeder zusätzliche Jahrhundertring auf dem Strafzettel poliert das Image des „unbeugsamen Demokraten“ weiter auf. Wenn er also tatsächlich verurteilt würde – was in einem politisch kontrollierten System keine Überraschung wäre – könnte er theoretisch zur größten Märtyrerfigur der türkischen Moderne werden. Erdogan hat mit seiner Justiz also das geschafft, was Oppositionelle sonst mühsam über Jahrzehnte aufbauen müssen: einen Mythos.

Fußnote der Vernunft

Vielleicht sollte man die 2352 Jahre Haft als das lesen, was sie wirklich sind: ein Maß an Angst. Denn wer sich sicher fühlt, braucht keine Ewigkeit, um einen Gegner loszuwerden. Wer aber ahnt, dass seine Macht bröckelt, der versucht, die Zeit selbst zu verhaften.

So gesehen ist die türkische Justiz weniger ein Gericht als ein Kalenderdienst: Sie rechnet nicht in Paragraphen, sondern in Ewigkeiten. Und irgendwo in Ankara sitzt jetzt vermutlich ein Beamter, der versucht, den Haftplan zu strukturieren: „Jahr 1–100: Einzelhaft. Jahr 101–500: Gartenarbeit. Jahr 501–1500: Literaturkreis. Jahr 1501–2352: Reflexion über Demokratie.“

Am Ende bleibt der Eindruck einer Farce in XXL-Format: ein Staat, der seine Gegner nicht bekämpft, sondern konserviert – tiefgefroren im Strafmaß der Unendlichkeit. Und vielleicht wird Imamoglu in 2352 Jahren doch noch freigelassen – von einem Archäologenteam, das ihn zwischen Fossilien und Relikten der autoritären Ära findet. Dann könnte man wenigstens sagen: Die türkische Justiz hat Geschichte geschrieben – wenn auch versehentlich.