- Veröffentlicht am
- • Politik
Sultan der Klageschrift – Erdogan entdeckt die Justiz als persönliche Hausverwaltung
- Autor
-
-
- Benutzer
- tmueller
- Beiträge dieses Autors
- Beiträge dieses Autors
-
Wenn Macht ein Parfum wäre, hieße es in Ankara „Eau de Empfindlichkeit“. Denn kaum jemand in der modernen Politik hat eine derart feine Nase für Beleidigungen wie Recep Tayyip Erdogan. Der türkische Präsident, der sich gerne als Hüter von Ehre, Moral und Nation präsentiert, hat mal wieder den Rechtsweg eingeschlagen – diesmal gegen den Vorsitzenden der größten Oppositionspartei, Özgür Özel von der CHP.
Der Vorwurf: Beleidigung. Das Opfer: natürlich Erdogan selbst. Der Schaden: „moralisch“. Die geforderte Summe: 500.000 Lira – also rund 10.300 Euro. Eine überschaubare Investition, wenn man bedenkt, dass man damit gleich doppelt gewinnt: Geld und das gute Gefühl, wieder ein bisschen Zivilisation aus dem Weg geräumt zu haben.
Die Türkei – das Land, in dem Kritik zum Volkssport ohne Publikum wird
In demokratischen Staaten heißt es: Kritik ist das Rückgrat der Meinungsfreiheit. In der Türkei heißt es: Kritik ist ein guter Grund, Anwälte zu beschäftigen.
Erdogan hat in seiner Karriere aus Klagen eine Kunstform gemacht. Während andere Politiker Reden schreiben, lässt er juristische Schriftsätze aufsetzen. Über 100.000 Ermittlungen wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung wurden in seiner Amtszeit eingeleitet – genug, um eine eigene Netflix-Serie daraus zu machen: „Erdogan vs. alle – Staffel 23“.
Diesmal also trifft es Özgür Özel, den Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei CHP, der es wagte, das Offensichtliche anzusprechen: dass Behörden Plakate des inhaftierten ehemaligen Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu verboten hätten. Imamoglu, der wegen dubioser Korruptionsvorwürfe hinter Gittern sitzt, ist nicht irgendwer – er ist der populärste Rivale Erdogans, ein Mann, der es tatsächlich geschafft hat, Istanbul zweimal gegen die Regierungspartei AKP zu gewinnen.
Und wer in der Türkei Istanbul gewinnt, der riecht in Erdogans Augen schon verdächtig nach Zukunft.
Wenn Worte Waffe und Wunde zugleich sind
Özel hatte in einer Rede erklärt, die Regierung gehe gezielt gegen die Opposition vor und versuche, Imamoglu aus dem öffentlichen Bewusstsein zu löschen. Erdogan sah darin nicht etwa politische Kritik, sondern – man ahnt es – eine Beleidigung.
Sein Anwalt Hüseyin Aydin teilte eifrig mit, der Präsident habe „moralischen Schaden erlitten“. Das wirft Fragen auf: Was genau verletzt die Moral eines Mannes, der seit zwanzig Jahren ununterbrochen regiert, die Presse an der kurzen Leine hält und Richter nach Loyalität auswählt? Vielleicht war es ja der Gedanke, jemand könnte öffentlich anmerken, dass in der Türkei die Justiz schon lange nicht mehr unabhängig, sondern eher dienstbeflissen ist.
Oder, ganz profan: Vielleicht war Erdogan einfach beleidigt, dass Imamoglu auf Plakaten besser aussieht.
Wenn Demokratie zur Statistenrolle degradiert wird
Der Fall Imamoglu ist das Sinnbild einer Demokratie im Klammergriff. Der charismatische Bürgermeister, Liebling der säkularen Städter, sitzt im Hochsicherheitsgefängnis, offiziell wegen „Korruption“, inoffiziell, weil er zu populär war. Sein politischer Erfolg in Istanbul war der größte Schlag gegen Erdogans Macht seit Jahren – und das merkt man der Nervosität des Präsidenten an.
Denn in Erdogans Türkei ist Opposition kein legitimer Bestandteil des Systems, sondern eine temporäre Abweichung vom Idealzustand: absolute Kontrolle. Wenn also der Oppositionsführer Özel die unfaire Behandlung Imamoglus kritisiert, wird daraus schnell ein persönlicher Angriff auf die Nation selbst – die Erdogan selbstverständlich verkörpert.
Das Prinzip ist so einfach wie wirksam: Wer den Präsidenten kritisiert, beleidigt die Türkei. Wer die Türkei beleidigt, beleidigt Allah. Und wer Allah beleidigt, landet garantiert nicht auf einer Wahlkampfbühne.
„Moralischer Schaden“ – das neue Modewort der Autokratie
Man könnte sagen, Erdogan habe das Konzept des „moralischen Schadens“ neu definiert. Früher meinte man damit seelisches Leid, heute bedeutet es: „Mein Ego wurde leicht angekratzt, bitte reichen Sie Klage ein.“
Dabei hat der Präsident längst Routine darin entwickelt. Ob Journalist, Karikaturist oder Oppositioneller – jeder, der die Worte „Erdogan“ und „Kritik“ in einem Satz verwendet, kann sich schon mal auf einen Termin beim Staatsanwalt einstellen.
Und das System funktioniert: Kritik wird teuer, Humor riskant, und selbst Ironie kann als Straftat gelten. Man könnte meinen, Erdogan habe eine persönliche Allergie gegen Satire entwickelt – eine seltene, aber hoch ansteckende Form des Autoritätssyndroms.
Der Sultan im Maßanzug
Was bleibt, ist ein Präsident, der sich in der Rolle des „beleidigten Staatsmanns“ so wohlfühlt, dass man fast glauben könnte, sie sei Teil der Verfassung. Mit jeder neuen Klage schreibt Erdogan seine eigene Variante des türkischen Strafrechts – irgendwo zwischen Autobiografie und Autokratie.
Dass er sich ausgerechnet über „moralischen Schaden“ beklagt, ist eine Realsatire, die sich selbst schreibt: Ein Mann, der jahrzehntelang Oppositionelle einsperren ließ, Medienhäuser schließen ließ und den Staat wie ein Familienunternehmen führt, erklärt, seine Gefühle seien verletzt worden.
Vielleicht ist das der wahre türkische Notstand: nicht die Wirtschaftskrise, nicht die Inflation, sondern ein Präsident, dessen Haut dünner ist als das Papier, auf dem die Klage geschrieben steht.
Die empfindliche Republik
So wird aus einer Demokratie eine Dauer-Therapiesitzung für ein politisches Ego. Özgür Özel wird sich wehren, natürlich. Doch jeder weiß, dass die Gerichte in der Türkei mittlerweile eher nach politischem Kalender als nach Gesetzbuch entscheiden. Und während Erdogan öffentlich den moralischen Zeigefinger hebt, fragt sich das Volk, ob er irgendwann auch gegen die Inflation Klage einreicht – wegen „wirtschaftlicher Beleidigung“.
Bis dahin bleibt alles beim Alten: Die Türkei steht vor Gericht – mal wieder. Aber der Kläger sitzt auf der Regierungsbank.